Das Gesetz von Hagen-Poiseuille und eine kleine Katheterkunde
Oder: “Warum die Dicke doch zählt!”.
Wir erinnern uns dunkel an die Physiologie im Studium. Komische trockene Formeln. Durchfluss. Und was interessiert mich das jetzt?
Als Anästhesist sollte uns das Gesetz, benannt nach Gotthilf Heinrich Ludwig Hagen (what a name!) und Jean Léonard Marie Poiseuille, absolut interessieren. Man muss es nicht nachts um drei auswendig rechnen können, aber die Kenntnis über die Bedeutung ist doch essentiell.
Es ist Nacht. Die große getrümmerte Fraktur ist für den OP angemeldet. Der Patient: Alt, instabil, antikoaguliert. Das wird bestimmt bluten. Schnell ein ZVK! Da kann ich dann Volumen, Blut und Vasopressoren gleichzeitig geben!
Auch, wenn ein ZVK bei diesem Patienten absolut sinnvoll ist, ist er es wegen oben genannten Gedanken?
Die Grundlagen
Das Hagen-Poiseuille’sche Gesetz dient der Berechnung eines Volumenstroms. Also dem Durchfluss eines bestimmten Volumens pro Zeiteinheit. “Wie viel geht da durch?”. Das Gesetz gilt allerdings nur für laminare Strömung und sogenannte Newtonsche Flüssigkeiten. Uff.
Laminare Strömung1
Als laminare Strömung wird eine “gleichförmige“ oder “schichtweise“ Strömung bezeichnet, in der es nicht zu Verwirbelungen kommt (vgl. Turbulenter Strömung). In unserem Gefäßsystem fließt das Blut “teleskopartig“ mit verschiedener Geschwindigkeit zwischen Rand des Blutgefäßes und dem inneren Raum.
Newton‘sche Fluide1
Als Newton‘sche Flüssigkeit werden solche bezeichnet, deren Viskosität (η) eine konstante Größe ist, die nur von der Temperatur abhängig und ansonsten konstant ist.
Es gilt das Gesetz von Newton: $τ = η\timesγ$ entsprechend $η = \frac{τ}{γ}$
Wobei τ die Schubspannung und γ den Schergrad angibt. Es besteht eine lineare Beziehung zwischen Schergrad und Schubspannung.
Ein klassisches Beispiel wäre Wasser.
Und hier kommt direkt der Dealbreaker: Blut als nicht-homogene Suspension von Plasma und Zellen ist kein Newton‘sches Fluid. Die Viskosität nimmt bei erniedrigter Strömung deutlich zu. Man spricht von “scheinbarer“ Viskosität. Ursächlich dafür ist das Verformungsverhalten der Erythrozyten, sowie die Bildung von Aggregaten selbiger bei langsamer Strömung. Zudem unterliegt der Fluss in kleiner werdenden Gefäßen dem Fåhraeus-Lindqvist-Effekt2. In unseren Kapillaren kommt es zur sogenannten Axialmigration der Erythrozyten. Dadurch bildet sich eine zellarme “Gleitschicht“, die die scheinbare Viskosität erniedrigt und damit die zentrale Fließgeschwindigkeit erhöht.
Aber zurück zu unseren Freunden Hagen und Poiseuille.
Das Gesetz von Hagen-Poiseuille1
$Q = ΔP\frac{πr^4}{8ηl}$
Wobei ΔP die Druckdifferenz, r den Rohrradius, η die Viskosität der Flüssigkeit und l die Länge des Rohres beschreibt.
Doch was genau bringt uns das jetzt? Die Kernaussage dieser Formel für uns ist folgende: Der Durchfluss Q wird maßgeblich durch den Radius der Infusionsleitung (und des Blutgefäßes) beeinflusst. Die nächsten Größen, auf die wir Einfluss haben sind die Druckdifferenz und die Länge des Katheters.
Kleine Katheterkunde
So. Patient schockig. Braucht Volumen. Ab rein den ZVK und schnell möglichst viel Vollelektrolytlösung und sobald vorhanden Blut hinein?
Eher nicht!
Schauen wir uns mal die Durchflussraten diverser Katheter, die wir regelhaft nutzen, an.
Die bei uns genutzten Standardzugänge sind Vasofix® Safety der Firma B. Braun (keine Werbung!).
Gängig sind dabei die Größen zwischen 22G (Blau) bis 16G (Grau), wobei die meisten Patienten erstmal mit einem 20G- (Rosa), oder 18G- (Grün) Zugang versorgt werden.
Größe | Durchmesser (mm) | Länge (mm) | Fluss (ml/min) |
22G | 0,9 | 25 | 36 |
20G | 1,1 | 33 | 61 |
18G | 1,3 | 45 | 96 |
16G | 1,7 | 50 | 196 |
Beim ZVK ist der dreilumige Arrowg+ard blue unser Katheter. Dieser ist 20cm lang und besitzt zwei 18G und ein 16G Lumen. Achtung: Hier sind die Flussraten in ml/h!
Lumen | Füllvolumen (ml) | Flow (ml/h) |
Proximal 18G | 0,4 | 1154 ≈ 19,2ml/min |
Medial 18G | 0,4 | 1046 ≈ 17,4ml/min |
Distal 16G | 0,4 | 2258 ≈ 37,6ml/min |
Und jetzt wollen wir es mal richtig wissen: Der Shaldon-Katheter! Als Beispiel nehmen wir den Trisafe Expert von Vygon. Dieser hat drei Lumen und ist in den Längen 15cm, 20cm und 24cm erhältlich. Die Tabelle bezieht sich auf die 15cm Variante.
Lumen | Füllvolumen (ml) | Flow (ml/h) |
16G | 0,5 | 55 |
12G | 1,6 | 230 |
11G | 1,7 | 400 |
Fazit
Manchmal kommt es eben doch auf die Größe an, aber dann auch doch nicht auf die Länge.
Wollen wir schnell viel Volumen in unseren Patienten bringen, bringt uns der Standard-ZVK eben nicht weiter. Ein klassischer ZVK ist kein Volumenzugang! Dann doch lieber eine periphere Kanüle mit 16G oder ähnlichem. Der direkte Vergleich macht es eindeutig: Peripher 16G bringen uns knapp 200ml/min an Flussrate, während uns ein Lumen des gleichen Druchmessers beim ZVK aufgrund der Länge auf knapp 38ml/min beschränkt.
Gehen wir von massivem Volumenbedarf in kurzer Zeit aus, dann ist der Shaldon das Mittel der Wahl. Auch zur kurzzeitigen Dialyse ist dieser Katheter wegen der hohen Flussrate geeignet.
Man sieht: Man muss nicht nachts um drei Uhr die Flussraten berechnen können. Zum Glück stehen diese in der Regel sogar auf den Verpackungen der Katheter. Aber man sollte sich bewusst sein, was durch die diversen Plastikschläuche hindurch geht – und um zu glänzen vielleicht sogar noch verstehen, wieso das so ist.
- 1.Pape HC, Kurtz A, Silbernagl S, eds. Physiologie. Published online 2019. doi:10.1055/b-006-163285
- 2.Fåhræus R, Lindqvist T. THE VISCOSITY OF THE BLOOD IN NARROW CAPILLARY TUBES. American Journal of Physiology-Legacy Content. Published online March 1, 1931:562-568. doi:10.1152/ajplegacy.1931.96.3.562