Kontextsensitive Halbwertszeit

Kontextsensitive Halbwertszeit

„Sufenta ist doch viel besser! Wegen der kontextsensitiven Halbwertszeit! Gerade so bei langen Nummern!“.
Aha. Und was heißt das jetzt genau?

Halbwertszeit

Um zu überlegen, was die “kontextsensitive“ Halbwertszeit ist, müssen wir uns zuerst kurz bewusst machen, was die Halbwertszeit ist und was sie für uns bedeutet.

Sprechen wir in der Medizin von “der“ Halbwertszeit, so ist in der Regel die Plasmahalbwertszeit gemeint, also die Zeit zwischen Maximalkonzentration eines Stoffes bis zum Abfall auf exakt 50% dieses Wertes im Plasma. Ein häufiger Fehler ist, dass Wirkungsdauer und Halbwertszeit synonym verwendet werden.​1​

Die Elimination der meisten Pharmaka folgen der Kinetik 1. Ordnung (Außnahmen bestätigen die Regel, bspw. “Beloc ZOK“ = zero order kinetic, ein Metoprololpräparat, das der Kinetik 0. Ordnung folgt und damit die Konzentration im Plasma von Einnahme bis Ende des Intervalls nahezu konstant hält). Bei dieser Kinetik verhält sich die Eliminationsgeschwindigkeit proportional zur Ausgangskonzentration: Da bei gleichbleibender Clearance die gleiche Menge Plasma pro Zeit von einer Substanz befreit wird sinkt die Eliminationsrate, durch die fallende Konzentration des Stoffes. Dadurch ergibt sich folgende Formel:

$t_{1/2} = \frac{ln 2}{k_{Elimination}}$ und damit $t_{1/2} = \frac{0,693}{k_{Elimination}}$​1​

Die Eliminationskonstante ist abhängig von der jeweiligen Substanz. Mit ein bisschen Rechnerei lässt sich nun die Eliminationsgeschwindigkeit eines Stoffes berechnen.

$v_{Elimination} = k_{Elimination}\times c$ ​1​

Wobei c die Konzentration des Stoffes angibt.
Während sich die Eliminationsgeschwindigkeit eines Stoffes mit der Zeit ändert, so ist die Plasmahalbwertszeit eine für jeden Stoff spezifische und konstante Zeit.​1​

Kontextsensitive Halbwertszeit

Doch was genau bedeutet jetzt “kontextsensitive Halbwertszeit“?
Die kontextsensitive Halbwertszeit ist ein 1992​2​ von der Anästhesie geprägter Begriff und wurde eingeführt um die Halbwertszeit eines Stoffes der kontinuierlich verabreicht wird zu beschreiben. Durch die kontinuierliche Applikation von Pharmaka (auch bei sehr schnell-repetitiver Gabe) ergeben sich durch Umverteilung (Siehe Kompartimentmodell) entsprechend verlängerte Halbwertszeiten. Je kürzer ein Medikament verabreicht wird, desto weniger sind insbesondere die schlecht perfundierten Kompartimente “gesättigt“ und umso rascher fällt die Plasmakonzentration. Je länger ein Medikament infundiert wird, desto mehr Umverteilung in alle Kompartimente hat stattgefunden. Fällt nun die Plasmakonzentration kommt es zu erneuter Umverteilung, nur diesmal von den anderen Kompartimenten zurück ins Plasma: Die Halbwertszeit verlängert sich also!​2​

Die Kontextsensitive Halbwertszeit beschreibt die Zeitspanne von Beendigung einer kontinuierlichen Infusion bis zum Erreichen einer 50%igen Konzentration des Stoffes im Plasma.​1–4​

Bei den meisten Substanzten steigt die kontextsensitive Halbwertszeit mit der Dauer der Applikation.​1​

Vergleicht man diverse Opiate in kontinuierlicher Gabe, so zeigen sich unterschiedliche Profile für die gängigen Opiate: Am schlechtesten schneidet Fentanyl ab, schon nach circa 100 Minuten steigt die kontextsensitive Halbwertszeit ins unermessliche, allerdings gibt es auch hier irgendwann einen “sigmoiden“ Umschwung. Nach circa sechs Stunden Infusionszeit sind wir hier bei circa. 250 Minuten kontextsensitiver Halbwertszeit. Etwas besser sieht das ganze beim Alfentanyl aus. Sufentanil hat von den klassischen Opiaten das beste Profil und steigt erst nach circa 600 Minuten Infusionsdauer eine kontextsensitive Halbwertszeit von circa 50 Minuten. Der Absolute Gewinner: Remifentanil: Nach circa 3 Minuten sind wir hier im Steady-state, ohne weitere Erhöhung der kontextsensitiven Halbwertszeit, daher wird es auch als “Kontext-insensitive“ bezeichnet.​1,3,4​

Propofol z.B. steigt klassischerweise linear an, bis es nach circa 8 Stunden Infusionsdauer eine kontextsensitive Halbwertszeit von 40 Minuten zeigt.​3​

Ein Beispiel: Wir nutzen Propofol und Remifentanil für eine Spaltung eines Perianalabszesses. Die Infusion wird beendet und nach kurzer Zeit erwacht unser Patient. Würde die gleiche Patientin beispielsweise eine Lappenplastik über mehrere Stunden erhalten, so würde sich die Aufwachzeit wegen des Propofols vermutlich verlängern. Das Remifentanil hat eine hervorragende kontextsensitive („insensitive“) Halbwertszeit und wäre ähnlich schnell verschwunden, als hätten wir es nur „einmalig“ appliziert. ​4​

  1. 1.
    Thiel H, Roewer N, eds. Anästhesiologische Pharmakotherapie. Published online 2021. doi:10.1055/b000000110
  2. 2.
    Hughes MA, Glass PSA, Jacobs JR. Context-sensitive Half-time in Multicompartment. Anesthesiology. Published online March 1, 1992:334-341. doi:10.1097/00000542-199203000-00003
  3. 3.
    Cross ME, Plunkett EVE. Physics, Pharmacology and Physiology for Anaesthetists. Published online March 27, 2008. doi:10.1017/cbo9780511544538
  4. 4.
    Striebel HW DEAA, ed. Die Anästhesie. Published online 2019. doi:10.1055/b-006-163370

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert